Am Montag, den 6. Februar 2023, ereignete sich in der Türkei nahe der syrischen Grenze eine verheerende Serie von Erdbeben. Dabei hatte das stärkste Beben eine Magnitude von 7,8. Die Auswirkungen waren katastrophal: Zehntausende Menschen kamen ums Leben, unzählige weitere wurden verletzt und hatten keinen Zugang mehr zu grundlegender Versorgung.

Ein Jahr nach dem Erdbeben sind Familien in der Region noch immer mit den verheerenden Auswirkungen konfrontiert. Viele Menschen haben alles verloren: ihr Zuhause, ihren Arbeitsplatz und ihre Lebensgrundlagen. Manche haben geliebte Familienmitglieder und Freund*innen verloren. Der Tod nahestehender Menschen wirkt sich auf die mentale Gesundheit der Betroffenen aus und belastet sie enorm.

Seit nunmehr dreizehn Jahren hält der Krieg in Syrien an. Schon vor den Erdbeben erlebten die Menschen im Land eine der schlimmsten humanitären Krisen weltweit. Vor Kurzem kam es zu einem Choleraausbruch, den das ohnehin geschwächte Gesundheitssystem nur schwer auffangen konnte.

Während des kalten Winters leben zwei Millionen Menschen in so genannten „Last-Resort“-Notunterkünften, ohne ausreichenden Zugang zu grundlegender Versorgung. Viele der Menschen sind in die Türkei geflohen: Das Land hat bereits über 3,6 Millionen syrische Geflüchtete aufgenommen. Nun wurde in der Türkei die Erdgasversorgung unterbrochen, sodass viele Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben.

Hamed* arbeitet für IRC in Syrien und begleitet dort Projekte im Bereich wirtschaftlichen Wiederaufbau. Zum Beispiel unterstützt er Syrer*innen dabei, Wege zu finden, um ihr Einkommen zu erzielen. Er sagt über das Erdbeben:

„Diese 60 Sekunden stehen symbolisch für zwölf Jahre Krieg, Zerstörung und Vertreibung.“ 

Mazin steht inmitten der Trümmer des Erdbebens.
Mazin, 40, hilft bei der Suche nach Vermissten in den Trümmern, nachdem ein Erdbeben der Stärke 7,8 die türkisch-syrische Grenze getroffen hatte.
Foto: Frontline in Focus/IRC

International Rescue Committee (IRC) ist seit 2012 in Syrien tätig. Heute bietet IRC mit mehr als 1000 Mitarbeitenden vor Ort lebenswichtige medizinische Versorgung, Schutz und Unterstützung beim Wiederaufbau. Nach den Erdbeben hat IRC die Unterstützung für die betroffene Bevölkerung in der Türkei und in Syrien ausgeweitet und arbeitet seither eng mit lokalen Organisationen zusammen. Erfahre hier mehr über die Arbeit von IRC in Syrien.

Bargeldhilfe 

Abeer und ihr Mann mit zwei ihrer Kinder.
Abeer*, 30, und ihre Familie wurden nach dem Erdbeben aus dem Süden Aleppos vertrieben. Sie leben jetzt in einem Zelt. IRC unterstützt sie mit Bargeldhilfe und Betreuungsangeboten, um ihre Grundbedürfnisse zu decken.
Foto: Frontline in Focus/IRC

Die Bargeldhilfe ist eine der effektivsten Möglichkeiten, um Menschen in Krisen zu helfen. Seit den Erdbeben haben IRC-Teams vor Ort Nothilfe geleistet, indem sie Bargeld an betroffene Familien verteilt haben. 

„Viele Menschen haben alles verloren: ihr Zuhause, ihre Kinder, ihre Lebensgrundlagen“, sagt Hamed. „Bargeldhilfe kann die Menschen dabei unterstützen, ihre dringendsten Bedarfe zu decken und wieder auf die Beine zu kommen.“ 

Innerhalb der ersten Monate hat IRC über 12.000 Haushalte und somit etwa 76.000 Menschen mit Bargeldhilfe unterstützt. Bis heute wurden insgesamt über 33.000 Haushalte in Syrien und der Türkei erreicht, also rund 199.000 Menschen. 

„Die Menschen trauen sich nicht, um etwas zu bitten“, sagt Muneer, der bei dem Erdbeben drei Kinder verloren hat. Er erhielt Bargeldhilfe von IRC. „Wenn du heute jemandem Brot gibst, hat er oder sie keine andere Wahl, als es zu essen. Wenn du der Person aber 50-100 türkische Lira gibst, überlegt sie, was sie wirklich braucht.“ 

Hala schaut in die Kamera.
Hala*, 32, arbeitet als Referentin im Bereich Schutz und Teilhabe im Nordwesten Syriens.
Foto: Frontline in Focus/IRC

Frauen waren oft die Hauptverdienerinnen in ihren Familien. Nach dem Erdbeben mussten viele von ihnen einen neuen Weg finden, um ein Einkommen zu erzielen. Hala, Referentin für Schutz und Teilhabe bei IRC, führt in Syrien Schulungen durch, in denen sie Frauen wichtige Kompetenzen wie Kochen, Nähen und das Herstellen von Marmelade vermittelt. Mit diesen neuen Fähigkeiten können sie eigene Unternehmen gründen und ihre Familien finanziell unterstützen. Zusätzlich erhalten die Teilnehmer*innen etwas Startkapital, um ihnen den Einstieg zu erleichtern.

Auch ein Jahr nach dem Erdbeben ist Hala motivierter denn je, ihre Gemeinde zu unterstützen und die Lage vor Ort zu verbessern:

„Menschen helfen zu können, die uns und unsere Unterstützung brauchen, macht mich sehr glücklich“, sagt sie. „Wenn ich sehe, wie positiv sich das auf die Psyche der Menschen und ihrer Kinder auswirkt, ist das einfach wunderbar.“

Gesundheitsversorgung

Mobile medizinische Kliniken

Dania steht mit ihren zwei Kindern.
Dania* und zwei ihrer Kinder stehen vor einem Zelt im Nordwesten Syriens, in dem sie seit dem Erdbeben leben. Eine mobile medizinische Klinik von IRC hat ihr bei der medizinischen Versorgung ihres Sohnes geholfen.
Foto: Frontline in Focus/IRC

Dania, 25, ist Mutter von fünf Kindern. Als sich das erste Erdbeben vor einem Jahr ereignete, schliefen sie und ihre Familie. Nach mehreren Nachbeben hörte sie, wie ihr Schwager und seine Frau an ihre Tür klopften und sie drängten, aus dem Haus zu kommen.

„Ich war kaum über die Türschwelle, da brach alles zusammen“, sagt sie. „Ich legte mich neben die Tür und schützte meinen Kopf mit den Händen. Wir fingen an zu schreien. Als wir die Treppe hinuntergingen, hörte ich Leute sagen, dass ein Gebäude in der Nähe eingestürzt sei. Unsere Haustür und der Eingangsbereich waren stark beschädigt. Wir werden dort nicht mehr wohnen können, nie mehr.“

Vor dem Erdbeben verdiente hauptsächlich Danias Mann, der als Landwirt arbeitete, den Lebensunterhalt der Familie. Doch seine Felder wurden durch das Erdbeben zerstört.

Dania fing an, sich große Sorgen um ihren Sohn zu machen, der Asthma hat. Kurze Zeit später besuchte sie ein mobiles medizinisches Team von IRC, das sie mit den notwendigen Medikamenten versorgte. 

Die mobilen Kliniken von IRC spielen bei der medizinischen Versorgung der Überlebenden des Erdbebens eine wichtige Rolle. Bis Februar 2024 hat IRC in Syrien und der Türkei in Zusammenarbeit mit lokalen Partnern mehr als 917.000 gesundheitliche Beratungen und Untersuchungen durchgeführt. 

Wir unterstützen außerdem Kliniken in den Bereichen der medizinischen Grundversorgung, Chirurgie, Physiotherapie sowie psychische und psychosoziale Gesundheit. Dadurch stellen wir sicher, dass betroffene Menschen die notwendige Versorgung für ihr psychisches und physisches Wohlbefinden erhalten.

Unterstützung der psychischen Gesundheit

Yahya*, 15, mit seinem Vater Khaled* in ihrem Zelt.
Yahya*, 15, mit seinem Vater Khaled* in ihrem Zelt. Seit Yahya* und seine Familie (seine Eltern und drei Brüder) durch das Erdbeben vertrieben wurden, hilft ihnen IRC in Zusammenarbeit mit der Partnerorganisation Shafak mit medizinischen Untersuchungen, einem Elektrorollstuhl und psychosozialer Unterstützung.
Foto: Frontline in Focus/IRC

Während die Menschen schliefen, brachten die katastrophalen Erdbeben und ihre Nachbeben Gebäude zum Einsturz. Viele waren danach zu verängstigt, um in einem Haus Schutz zu suchen. In Zusammenarbeit mit lokalen Partnern unterstützt IRC insgesamt 18 Gesundheitseinrichtungen, darunter auch Abteilungen der psychischen Gesundheit, um den Menschen mit den Auswirkungen von Traumata zu helfen. Dazu gehören Beratungsgespräche für Frauen, Kinder und Betreuer*innen, sowie die Bereitstellung von sicheren Räumen, in denen sie sich aufhalten können.

„Die psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung sind für die Überlebenden des Erdbebens jetzt von zentraler Bedeutung. Viele von ihnen spüren die Folgen von Traumata und psychische Erkrankungen“, sagt Tanya Evans, IRC-Landesdirektorin für Syrien. 

Fatima benutzt ihre Nähmaschine.
Fatima* benutzt ihre Nähmaschine.
Foto: Frontline in Focus/IRC

Fatima war die Hauptverdienerin ihrer Familie und litt nach diesem Verlust unter starken Ängsten. Nach einem Gespräch mit einer IRC-Mitarbeiterin erhielt Fatima die Hilfe, die ihre Familie dringend benötigte: psychologische Betreuung und Medikamente für ihren Mann, drei Monatsmieten, die sie ihrem Vermieter schuldete, sowie Möbel und Zugang zu Strom.

Mit Hilfe einer der IRC-Partnerorganisationen erhielt Fatima außerdem Unterstützung bei der Gründung ihrer eigenen kleinen Schneiderei. Sie bekam eine Nähmaschine, sodass sie wieder eine eigene Einkommensquelle hatte.

„Lange Zeit konnte ich nicht mehr von Herzen lächeln“, erinnert sich Fatima. „Ich bin morgens traurig aufgewacht und habe mich gefragt: ,Was sollen wir nur tun?' Jetzt geht es mir viel besser. Ich fühle mich, als ob ich wieder Luft zum Atmen habe.“

Unterstützung für Kinder

Seit Mai 2023 gibt es unsere Initiative als Reaktion auf das Erdbeben, die wir in Zusammenarbeit mit dem Ahlan Simsim-Team entwickelt haben. Sie beinhaltet spezielle Module und Hilfskits für Kinder und Betreuer*innen, um besonders kleine Kinder dabei zu unterstützen, sich von den Auswirkungen des Erdbebens zu erholen.

Dadurch konnten IRC-Teams schnell betroffene Betreuer*innen und Kinder in den Notunterkünften erreichen und Betreuer*innen schulen. Das Hauptziel war es, mit Kindern spielerische Aktivitäten durchzuführen, die gleichzeitig dabei helfen, psychischen Stress zu lindern und den Ausdruck ihrer Gefühle zu fördern. Im April erreichte unser Team im Gouvernement Idlib dann einige Schulen in der Region mit Wohnmobilen, um so noch mehr betroffene Kinder und Betreuer*innen zu erreichen.  

Maher in einer Beratungssitzung im IRC-Zentrum.
Maher* in einer Beratungssitzung im IRC-Zentrum.
Foto: Frontline in Focus/IRC

Maher, 13, verlor durch das Erdbeben seine Mutter und erlitt selbst schwere Verletzungen. Die Bewältigung dieses Traumas hat lange Zeit gedauert. Jetzt lebt Maher bei seinen Großeltern. Trotz der großen Verluste, die er erlebt hat, bereitet er sich jetzt fleißig auf seine Prüfungen der 9. Klasse vor. 

IRC hilft Maher bei der Bewältigung dieser Herausforderungen, unter anderem mit psychologischer und finanzieller Unterstützung, wichtigen Schulmaterialien und durch Beratungsgespräche mit seinen Großeltern. Maher arbeitet fleißig in der Schule. Er verfolgt seinen Traum, ein Medizinstudium abzuschließen, um Arzt zu werden – ein Traum, den auch seine Mutter für ihn hatte.

Zusammenarbeit mit lokalen Organisationen

In den vom Erdbeben betroffenen Regionen der Türkei arbeitet IRC eng mit lokalen Partnerorganisationen zusammen, die die Gemeinden und Gegebenheiten vor Ort sehr gut kennen. Gemeinsam leisten wir umfassende Unterstützung und helfen bei der Beschaffung von wichtigen Medikamenten und lebenswichtigen Gütern, um die Hilfsmaßnahmen auszubauen.

Durch die Zusammenarbeit mit lokalen Organisationen kann IRC von deren langjährigen Erfahrungen profitieren und die Gemeinden langfristig unterstützen.

In Zusammenarbeit mit unserem Partner Independent Doctors Association (IDA) unterstützen wir zum Beispiel mobile Kliniken in der Provinz Gaziantep (Nurdagi, Islahiye und Nizip). Diese Kliniken bieten eine Reihe von Versorgungsdienstleistungen an, darunter Physiotherapie, psychosoziale Unterstützung und Bargeldhilfen für medizinische Behandlungen. So können Menschen, die durch das Erdbeben vertrieben wurden, zusätzliche Behandlungen bei privaten Dienstleistern in Anspruch nehmen, ohne dass Kosten für sie entstehen.

Esra schaut in die Kamera.
Dr. Esra, 27, und ihr Team halfen in Zusammenarbeit mit IRC, Kliniken für Physiotherapie und psychosoziale Unterstützung in den vom Erdbeben betroffenen Gebieten der Türkei einzurichten.
Foto: Francesco Pistilli/IRC

„Das Erdbeben hielt zwei Minuten an und es hat mehr als 13 Millionen Menschenleben verändert. Menschen, die normalerweise arbeiten und ihr Leben leben“, sagt Esra, eine 27-jährige Ärztin aus der Türkei.

Esra und ihr Team arbeiteten mit der IRC-Partnerorganisation Independent Doctors Association zusammen, um mobile Kliniken für Physiotherapie und psychosoziale Unterstützung in Gaziantep in der Türkei einzurichten. Diese Initiative zielt darauf ab, den betroffenen Menschen lebenswichtige Gesundheitsversorgung zur Verfügung zu stellen. 

*Name geändert oder aus Datenschutzgründen weggelassen 

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