Syrien befindet sich inmitten einer katastrophalen Spirale: das Zusammenspiel von Wirtschaftskrise, anhaltendem Konflikt und COVID-19-Pandemie wird zu einer weiteren Verschlechterung der Lage im Jahr 2022 führen. 

Menschen in Syrien erleben die schlimmste Wirtschaftskrise seit Beginn des Krieges, mit einer rekordverdächtigen Nahrungsmittelknappheit und rapide steigenden Preisen für Grundgüter. Gleichzeitig führt die Wasserknappheit in Nordsyrien zu dürreähnlichen Bedingungen und gefährdet die bereits angeschlagene Gesundheits- und Wasserversorgung für Millionen von Menschen. 

Die Gewalt hat seit dem Höhepunkt des Konflikts zwar abgenommen, stellt aber weiterhin eine große Bedrohung für die Zivilbevölkerung und zivile Infrastruktur in Grenzgebieten dar. Dort führt insbesondere die Gefahr einer größeren Militäroffensive auf sich außerhalb der Kontrolle der Regierung liegenden Gebieten zu starker Unsicherheit. Zudem kommt hinzu, dass sich die Bevölkerung durch die jahrelangen Konflikte nicht mehr auf weitere Katastrophen vorbereiten kann. Die drohenden auslaufenden Hilfslieferungen aus der Türkei verschärfen diese Lage weiter. 

„Die humanitäre Lage in Syrien ist äußerst fragil …”

„Die humanitäre Lage in Syrien ist fragil und hat sich durch die weltweite COVID-19-Pandemie und den drastischen wirtschaftlichen Abschwung weiter verschlechtert“, sagt Khaldoun Al-Amir, Referent von IRC für das Gesundheitswesen im Nahen Osten und Nordafrika.

„Die geschätzte Zahl der Menschen, die medizinische Versorgung benötigen, ist 2021 um etwa 5 % gestiegen und wird 2022 voraussichtlich noch weiter zunehmen. Als Gesundheitsexperte hoffe ich, dass die internationale Gemeinschaft ihre Bemühungen zum Schutz von Gesundheitsfachkräften und Gesundheitsdiensten verstärkt.“

Junge läuft durch den Schnee
Syrer*innen, die durch den Konflikt vertrieben wurden, harrten bei Minusgraden in Behelfsunterkünften aus, als im Januar 2022 eine Reihe von Kaltfronten den Nahen Osten heimsuchte.
Foto: Fadi Mansour/IRC

Humanitäre Risiken im Jahr 2022

Syrien verzeichnet die schlimmste Wirtschaftskrise seit Beginn des Krieges – eine Situation, die sich 2022 wahrscheinlich noch verschärfen und die Nahrungsmittelunsicherheit für Millionen von Menschen verschlimmern wird.

Die Krise wird durch eine Reihe von Faktoren angetrieben, darunter die COVID-19-Pandemie und der wirtschaftliche Zusammenbruch im benachbarten Libanon. Der Durchschnittspreis für Grundnahrungsmittel stieg zwischen Dezember 2019 und Dezember 2020 um 236 %. Mit der Verschärfung der libanesischen Wirtschaftskrise zwischen Oktober 2019 und Oktober 2021 verlor das syrische Pfund 82 % seines Wertes gegenüber dem Dollar. 

Die wirtschaftliche Lage hat zu einer rekordverdächtigen Ernährungsunsicherheit beigetragen: 60 % der Bevölkerung ist nun von Ernährungsunsicherheit betroffen. Da Syrer*innen nach und nach die Möglichkeiten ausgehen, sind sie zunehmend zu negativen Bewältigungsmechanismen gezwungen. Dazu gehören unter anderem Kinderarbeit und Kinderehen.

Der Zugang der Syrer*innen zu Grundgütern und -dienstleistungen, von der Gesundheitsversorgung über sauberes Wasser bis hin zu Lebensmitteln, wird voraussichtlich weiter beeinträchtigt.

Der Krieg zeichnet sich insbesondere durch die systematische Zerstörung ziviler Infrastruktur aus. Dadurch sind die Hälfte der Gesundheitseinrichtungen und Abwassersysteme nicht mehr funktionsfähig, viele weitere sind reparaturbedürftig. Die Gewährleistung grundlegender Dienstleistungen wird außerdem durch Wasserknappheit im Norden Syriens weiter untergraben. Von der Wasserkrise sind bereits 5 Millionen Syrer*innen betroffen. Es gibt nicht genug Wasser, um die Stromversorgung in der gesamten Region aufrechtzuerhalten, was wiederum die Gesundheitseinrichtungen stark beeinträchtigt. 

Der Mangel an sauberem Wasser birgt ein höheres Risiko für Krankheiten und die Verbreitung von COVID-19. Darüber hinaus wird der anhaltende Wassermangel in der Landwirtschaft die Syrer*innen dazu zwingen, ihr Ackerland und ihre Viehbestände aufzugeben. Ein solcher Verlust der Lebensgrundlagen wird die Hungerkrise weiter verschärfen.

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In Grenzgebieten ist der Konflikt nach wie vor akut und es besteht weiterhin die Gefahr einer größeren Eskalation, wenn die Regierung versucht, Gebiete außerhalb ihrer Kontrolle zurückzuerobern.

Insgesamt hat der Konflikt abgenommen. So herrscht zum Beispiel im Nordwesten des Landes seit März 2020 und im Nordosten seit Oktober 2019 eine Waffenruhe. Luftangriffe, Granatenbeschuss und andere Kriegsaktivitäten finden jedoch weiterhin regelmäßig statt. Es werden regelmäßig Zivilist*innen getötet und wichtige Infrastruktur zerstört. Immer wieder müssen Schule schließen. 

Darüber hinaus könnte die Regierung im Jahr 2022 eine Militäroffensive starten, um Gebiete zurückzuerobern, die sich aktuell außerhalb ihrer Kontrolle befinden. Eine Eskalation ist vor allem im Gouvernement Idlib wahrscheinlich und würde 3 Millionen Menschen in Gefahr bringen. Trotz lokaler Vereinbarungen kam es auch in Teilen Südsyriens zu leichteren Konflikten und Spannungen, seit die Regierung 2018 die Kontrolle über das Gebiet wiedererlangt hat. In diesen Gebieten sowie in allen Gebieten, die wieder unter die Kontrolle der Regierung fallen, kann es weiterhin zu lokalen Konflikten kommen.

Das Auslaufen der letzten grenzüberschreitenden UN-Hilfsoperation nach Syrien Mitte 2022 könnte die humanitäre Hilfe stark gefährden.

Im Juli 2014 genehmigte der UN-Sicherheitsrat grenzüberschreitende Operationen der Vereinten Nationen, um Hilfsgüter aus den Nachbarländern nach Syrien zu bringen. Seit 2020 hat der Rat die Zahl der erlaubten Grenzübergänge von vier auf einen reduziert, obwohl der Bedarf steigt. Insbesondere Gebiete außerhalb der Regierungskontrolle sind davon betroffen. 

In den nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten waren im Jahr 2021 81 % der Menschen im Nordwesten und 69 % im Nordosten auf Hilfe angewiesen. Die letzte grenzüberschreitende Operation läuft im Juli 2022 aus, derzeit gibt es keine realistischen Hilfsalternativen. Ohne grenzüberschreitende UN-Operationen wird es für humanitäre Organisationen nahezu unmöglich sein, rasche und groß angelegte Hilfe für bestehende und neu hinzukommende Krisen im Jahr 2022 zu leisten. 

Wie hilft IRC in Syrien?

Junge guckt in den Spiegel in einem Zelt
Die Ausbildung des zehnjährigen Omar wurde durch wiederholte Vertreibungen und COVID-19-Beschränkungen unterbrochen.
Foto: Abdullah Hammam/IRC

IRC ist seit 2012 in Syrien tätig und unterstützt die Menschen im Nordwesten und Nordosten des Landes. IRC fördert den wirtschaftlichen Aufschwung durch Berufsausbildung, Lehrstellen und die Unterstützung von Kleinunternehmen. IRC-Teams unterstützen die frühkindliche Entwicklung und bieten Beratungs- und Schutzdienste für Frauen und Kinder an, insbesondere für Überlebende von Gewalt. Wir unterstützen Gesundheitseinrichtungen und mobile Gesundheitsteams bei lebensrettenden Traumabehandlungen sowie bei der primären, reproduktiven und psychischen Gesundheitspflege. Unsere COVID-19-Maßnahmen umfassen die Förderung von Sensibilisierungskampagnen und die Schulung von Gesundheitsfachkräften in der Infektionsprävention und -kontrolle. IRC unterstützt auch syrische Flüchtlinge in Jordanien, Irak und Libanon. Erfahren Sie mehr über die Arbeit von IRC in Syrien.

Wie kann ich Syrien helfen?

Syrer*innen, die durch den Konflikt vertrieben wurden, müssen in provisorischen Unterkünften bei Minusgraden ausharren, nachdem die Region im Januar von einer Reihe von Kältefronten heimgesucht wurde.

„Es ist eisig kalt und wir brauchen dringend Hilfe.“

„Aufgrund des Schneesturms wurde das Zelt, in dem meine Familie und ich untergebracht waren, völlig zerstört und unsere Habseligkeiten wurden beschädigt“, sagte Mohannad*, 24, der mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in ein Lager im Nordwesten Syriens vertrieben wurde. „Es ist eiskalt und wir brauchen dringend Hilfe.“

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*Name wurde zum Schutz geändert