Erbil. In Irak. Rawan sitzt in ihrem Haus und macht sich Sorgen. Die COVID-19 Pandemie, das wusste sie schon vor Verkündung der Ausgehbeschränkungen, würde die Frauen und Mädchen aus den Programmen, für die sie verantwortlich ist, über eine Ansteckung hinaus in Gefahr bringen.  

„Die Situation beeinträchtigt jeden, aber Frauen und Mädchen sind viel verletzlicher“, erklärt Rawan, die als Koordinatorin für Programme zum Schutz und zur Stärkung von Frauen bei International Rescue Committee tätig ist. „Die Einschränkungen im sozialen Leben und die Abriegelung in den eigenen Häusern könnte bedeuten, dass Mädchen und Frauen, die sexualisierte Gewalt befürchten müssen, mit ihren Peinigern eingeschlossen leben müssen.“ 

Zwei Sozialarbeiterinnen vor einem Zentrum für geflüchtete Mädchen im Irak.
Asma*, eine IRC-Sozialarbeiterin, und Shirin*, eine Moderatorin von Girl Shine stehen vor dem Girl's Shine Center im AAF-Flüchtlingslager.
Foto: IRC

 

Rawan leitet ein Team, das vertriebene Frauen und Mädchen in einem Lager in der Nähe von Amriyat Al Fallujha (bekannt als AAF-Lager) unterstützt. Sie wusste, dass nach der Bestätigung der ersten Coronavirus-Infektionen in Irak das bestehende Programm schnell angepasst werden musste. 

„In AAF versuchen wir, unsere Aktivitäten fortzusetzen und gleichzeitig die COVID-19-Bestimmungen einzuhalten,” erklärt Rawan. „Wir organisieren jetzt einzelne Besuche, gehen von Zelt zu Zelt, stellen sicher, dass wir die Abstandsregelungen einhalten und Schutzkleidung tragen. Wir versuchen, das Bewusstsein der Frauen und Mädchen hier zu schärfen. Und wir wollen von ihren Wünschen erfahren. Denn das ist der wichtigste Teil: sicherstellen, dass die Anpassungen den Bedürfnissen der Frauen und Mädchen entsprechen.“ 

Die Frauen und Mädchen, die Rawan unterstützt, sind sehr widerstandsfähig. Daraus schöpft die IRC-Mitarbeiterin Kraft. So hat sie bei den Mädchen im Teenageralter, die am IRC-Bildungsprogramm „Girl Shine“ teilnehmen, eine positive Entwicklung feststellen können. 

Geflüchtete Mädchen aus dem Projekt Girls Shine im Irak präsentieren ihre Armbänder
Mädchen präsentieren ihre handgefertigten Armbänder, die während einer Girl Shine-Sitzung hergestellt wurden.
Foto: IRC

Rawan erinnert sich: Zu Beginn des Kurses hat das IRC-Team die Mädchen gebeten, sich selbst und ihre Gefühle zu zeichnen. Gegen Ende des Semesters sollten sie dies wiederholen. „Es gab mehr Farbe, mehr Glück und mehr Freunde in den Zeichnungen. Daran kann man sehr gut erkennen, dass sich die Teilnehmerinnen verändert haben. Es ist dieses positive Feedback, das mir bei meiner Arbeit Mut gibt.“ 

Die Pandemie betrifft jeden, doch Frauen und Mädchen sind verletzlicher. 

Der Lehrplan ist umfassend und beinhaltet verschiedene Themen: soziale und emotionale Fähigkeiten, Gesundheit, Hygiene und das Verständnis über die Rechte von Frauen und Mädchen. Auch die Eltern der Mädchen werden dabei in das Programm miteinbezogen. Darüber hinaus stehen die Betreuerinnen – oftmals als einzige zuverlässige Informationsquelle – den Mädchen zu diesen Themen zur Verfügung. Sie sorgen dafür, dass die Mädchen in einer sicheren Umgebung Fragen stellen, über ihre Gefühle sprechen und – wenn nötig – auch Missbrauch melden können. Der Unterricht wird von geschulten Betreuer*innen geleitet, die oft aus der gleichen Gemeinde wie die vertriebenen Mädchen stammen. 

„Viele der Mädchen sind von einer frühen Heirat bedroht. Wir vermitteln ihnen, wie sie besser für ihre Ziele einstehen und Unterstützung von Menschen aus ihrem sozialen Umfeld erhalten können. Wir wollen die Mädchen dazu ermutigen, für sich selbst zu antworten und ihre Rechte zu verteidigen“, sagt Rawan. 

„Wir können nicht dauernd bei den Mädchen sein. Deshalb ist es wichtig, sie zu stärken und ihnen Selbstvertrauen zu geben, damit sie auf sich selbst aufpassen und künftig die Herausforderungen in ihrem Leben auch selbständig anpacken und meistern können.“ 

Der Einsatz zur Abschaffung von Kinderheirat ist seit Beginn der Coronavirus-Pandemie noch wichtiger geworden. Forschungen haben ergeben, dass aufgrund von COVID-19 weltweit mit bis zu 13 Millionen Kinderehen zu rechnen ist: weil weltweit zugehörige Programme gestoppt wurden und sich gleichzeitig die wirtschaftliche Lage aufgrund von COVID-19 teilweise extrem verschlechtert hat. 

Bei der Arbeit denkt Rawan oft an ihre eigene Kindheit. Sie ist in Syrien aufgewachsen und hat schon früh alle sozialen Normen und Stereotypen, mit denen junge Mädchen kämpfen, selbst erfahren. „Wir konnten keine Fragen stellen oder Sorgen äußern. Viele Themen waren für heranwachsende Mädchen tabu. Von ihnen wurde ein bestimmtes Verhalten erwartet“, erinnert sich die IRC-Mitarbeiterin. 

Aber durch ihre Arbeit im „Girl Shine“ Projekt beobachtet Rawan Veränderungen. Besonders beeindruckt ist sie von der wachsenden Akzeptanz bei den Eltern, die ihren Kindern eine eigene Zukunft ermöglichen wollen. 

Rawan erinnert sich an ein Gespräch mit einem der Mädchen aus dem Programm. „Die Mutter des Mädchens wurde in sehr jungem Alter verheiratet und ging selbst nie zur Schule. Ihrer Tochter sagte sie, sie wolle nicht, dass dies bei ihr auch so ist. Die Mütter hier sind heute glücklich darüber, dass ihre Töchter aktiver sind und für sich selbst sprechen wollen.“ 

Rawan ist dankbar, am Wandel teilhaben zu können. Auch ihr eigenes Leben hat dies beeinflusst – als Frau und als Mutter. „Mädchen wird das geringe Selbstvertrauen oft anerzogen. Wenn ich sehe, dass sich das jetzt ändert, dann motiviert mich das.“ 

*Um die Sicherheit von Mitarbeiter*innen und weiteren Programmbeteiligten nicht zu gefährden, hat IRC in diesem Artikel die Namen geändert. 

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Gemeinsam mit der Generaldirektion Civil Protection and Humanitarian Aid Operations der EU leisten wir lebensrettende Unterstützung für Menschen auf der ganzen Welt, die von Konflikten und Katastrophen betroffen sind.