„Jetzt bin ich stark”

Europa – im Jahr 2015. Hunderttausende Menschen sind auf der Flucht, suchen nach Sicherheit vor Verfolgung und Gewalt – auch in Deutschland. Julia ist eine von ihnen.

„Ich bin 26 Jahre und komme aus Syrien,“ sagt die junge Frau. „Das war das Schwierigste, dass ich wegen des Kriegs aus meiner Heimat fliehen musste.“ In Deutschland hat Julia den Neuanfang gewagt, die Sprache gelernt, ein Jobtraining absolviert und anschließend als Barista gearbeitet. Spaß habe es gemacht, erzählt Julia fröhlich, denn Arbeit sei nicht nur eine Herausforderung für sie. 

Viele Frauen können keine formale Ausbildung vorweisen, weil sie in ihren Heimatländern keiner bezahlten Arbeit nachgehen konnten.
Foto: Marie Pleasse

Den Neuanfang wagen

„Arbeit ist alles“, erklärt die junge Frau. „Wichtig ist deshalb, dass ich einen Ausbildungsplatz bekomme.“ Weiterkommen wolle sie, erzählt Julia lachend. „Chemie und Medizin – ich mag diesen Bereich sehr. Das war mein Traumberuf seit ich Kind bin.“ Das nächste Ziel steht für Julia deshalb schon fest: Sie will biologisch-technische Assistentin werden. „Deutschland hat viel für mich gemacht. Es gibt kein Wort, mit dem ich es ausdrücken kann – aber ich fühle mich hier wie in meinem Heimatland.“

Menschen wie Julia gibt es heute viele in Deutschland. Sie kamen als Geflüchtete und verstehen sich nun als Teil dieser Gesellschaft. Besonders im Bereich der wirtschaftlichen Integration wurden große Fortschritte gemacht. So sind nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung mehr als die Hälfte der Geflüchteten fünf Jahre nach ihrer Ankunft in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt.  

Individuelle Beratung für Geflüchtete

„Erwerbstätigkeit ist der Schlüssel für erfolgreiche Integration,“ sagt Marleen Schreier von International Rescue Committee (IRC) in Deutschland. Deshalb plant sie – zusammen mit IRC-Partnerorganisationen – Workshops, Fortbildungskurse und individuell ausgerichtete Bewerbungstrainings. „Nicht nur die Profile der Geflüchteten sind sehr unterschiedlich,“ erklärt Marleen Schreier. „Ihre Bedürfnisse und Herausforderungen sind es auch. Wir versuchen deshalb, die Programmteilnehmenden da abzuholen, wo sie gerade sind. Unsere Erfahrung dabei zeigt, dass Geflüchtete und Asylsuchende sehr motiviert sind. Sie wollen unbedingt arbeiten. Das stärkt nicht nur ihr Selbstwertgefühl, sondern sorgt auch für mehr Akzeptanz durch andere.“

Achmed erinnert sich an seine Anfänge in Deutschland. Auch er musste 2015 fliehen. Der „Islamische Staat“ (IS) hatte seine Heimatstadt in Irak besetzt. „Also es war relativ schwer am Anfang mit einer neuen Sprache und der neuen Kultur, aber ich habe auch sehr viel Glück gehabt,“ erinnert sich der 26-Jährige. Eine Familie habe ihn in Deutschland aufgenommen, Freunde hätten mit Praktikumsplätzen geholfen, doch Fuß fassen konnte der studierte Chemiker zunächst nicht. „Nach dem Deutschkurs habe ich ein Praktikum als Chemielaborant gemacht, aber wegen meiner Sprachkenntnisse und der fehlenden Arbeitserlaubnis, habe ich kein weiteres Arbeitsangebot erhalten.“

Illustration Chemielaborant
Nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sind mehr als 50% der Geflüchteten fünf Jahre nach ihrer Ankunft in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt.
Foto: Marie Plesse

Mit Unterstützung zum Traumjob

Dann hat Achmed eine Anzeige für ein Bewerbungstraining der IRC-Partnerorganisation jobs4refugees gesehen und sich gleich angemeldet. „Ich bin heute sehr zufrieden. Ich habe meinen Traumjob gefunden und arbeite in einem Labor für Tiermedizin. Ich habe einen festen Job.“

Auch Friederike Löwa freut sich über den Erfolg. Sie ist Integrationskoordinatorin und Mitglied in der Geschäftsführung bei jobs4refugees und hilft dort, geflüchtete Menschen in Arbeit zu vermitteln. „Es ist bewundernswert, wie viel Energie diese Menschen mitbringen. Sie möchten ihren Kindern eine Ausbildung ermöglichen und nicht untätig zu Hause sitzen. Das Feedback, das wir erhalten, ist sehr positiv. Wir haben auch ein zunehmendes Interesse von Arbeitgebern, die sich bewusst divers und integrationsoffen aufstellen wollen.“

Formale Anforderungen umdenken 

Seit Beginn der COVID-19-Pandemie hat sich der Aufwärtstrend verlangsamt. Viele Geflüchtete sind im Handel und bei Zeitarbeitsfirmen tätig, weitere in der Gastronomie, so eine Studie des Deutschen Instituts der Wirtschaft. Dazu gibt es nach wie vor weitere Herausforderungen. Friederike Löwa kennt sie gut: „Vor allem die Sprache ist schwierig. Da sind Geflüchtete oft benachteiligt. Für uns ist das vielleicht schwer vorstellbar, aber sie sagen mir oft: ‚Wie soll ich denn Deutsch lernen, wenn ich keine deutschen Freunde und dadurch auch keine Sprachpraxis habe. Und wie soll ich so einen Job bekommen?‘ Wenn es da Überbrückungsmaßnahmen gäbe, dann würde das unglaublich helfen.“

Praktika und Fortbildungen könnten schon während des Integrationskurses gesammelt werden. Dies würde in einem weiteren Bereich helfen, so die Integrationskoordinatorin, denn viele könnten Arbeitserfahrung und Ausbildung aus ihrem Heimatland in Deutschland nicht nutzen. „Das liegt zum einen daran, dass sie keine Unterlagen haben, die nachweisen, was sie gemacht haben. Deutschland ist sehr formal eingestellt. Es wird nach Dokumenten gefragt, die nicht immer vorliegen. Und dann ist das Anerkennungsverfahren sehr komplex und langwierig. Manchmal entscheiden sich Geflüchtete deshalb, einen komplett neuen Weg einzuschlagen.“

Illustration einer Frau am Schreibtisch bei der Computerarbeit
Damit die wirtschaftliche Integration gelingt, brauchen Frauen mehr Unterstützung was Angebote zur Kinderbetreuung und Teilzeitarbeit anbelangt.
Foto: Marie Plesse

Frauen besonders fördern

Marleen Schreier ergänzt: „Besonders Frauen haben es schwer. Das zeigt auch eine von IRC jüngst veröffentlichte Studie. Da wird deutlich: Viele Frauen können keine formale Ausbildung vorweisen, weil sie in ihren Heimatländern keiner bezahlten Arbeit nachgehen konnten. Sie waren vor allem für den Haushalt und die Kinderbetreuung zuständig – und diese Verantwortung tragen sie in Deutschland oftmals weiter. Wir brauchen hier mehr Unterstützung was Angebote zur Kinderbetreuung und Teilzeitarbeit anbelangt.“ 

Zahra ist vor sieben Jahren nach Deutschland gekommen. Ihren Sprachkurs musste sie abbrechen. „Ich wurde schwanger, danach blieb ich zu Hause bei den Kindern,“ erinnert sich die dreifache Mutter. Seitdem nun auch das jüngste Kind zur Schule geht, schmiedet Zahra neue Pläne: „Ich habe einen Job gefunden. Es ist manchmal anstrengend und schwierig, aber endlich wird alles gut.“ Zahra arbeitet in einer Küche, verteilt Mittagessen in Schulen, macht sauber – zusammen mit anderen Frauen. Nicht nur ihr Deutsch habe sich dabei verbessert, sie sei auch mutiger geworden, macht nun den Führerschein und will eine Ausbildung zur Erzieherin beginnen. „Es gibt so viele Möglichkeiten hier für eine Frau. In meiner Heimat war ich nur Zuhause. Ich habe geglaubt, dass muss so sein. Mein Mann arbeitet außer Haus – das ist genug. Aber jetzt bin ich stark! Ich habe mich gefunden. Das ist mein Glück.“