Vor einem Jahr hat ein verheerendes Erdbeben der Stärke 7,8 den Süden der Türkei und Nordsyrien erschüttert. Heute spüren die betroffenen Gemeinden noch immer die Folgen von Trauma und Zerstörung, die die Katastrophe verursacht hat. Allein in Syrien haben 13.000 Menschen ihr Leben verloren und Hunderttausende wurden intern vertrieben. International Rescue Committee (IRC) warnt vor immer weiter steigenden humanitären Bedarfen in Gebieten, die bereits von langanhaltenden Konflikten geschwächt sind. 

Schon vor dem Erdbeben im Februar 2023 war die humanitäre Lage in Syrien katastrophal: Der bereits seit über zehn Jahren anhaltende Konflikt hatte Millionen Menschen innerhalb und außerhalb der Landesgrenzen vertrieben. Das Erdbeben im letzten Jahr  setzt die humanitäre Hilfe und die ohnehin schon fragilen Systeme im Nordwesten Syriens  zusätzlich unter Druck. Die Kapazitäten vor Ort waren nach dreizehn Jahren anhaltender Krise bereits auf ein Bruchteil reduziert.  

Im nunmehr vierzehnten Jahr des Konflikts in Syrien ist die Zahl der Menschen, die auf humanitäre Hilfe angewesen sind, auf 16,7 Millionen angestiegen – ein Anstieg von 9 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Heute leben 90 Prozent aller Syrer*innen unterhalb der Armutsgrenze. Die Kosten für grundlegende Güter steigen weiter, sodass viele Familie Schwierigkeiten haben, ihren Lebensunterhalt zu sichern. Sie stehen vor der grundlegenden Entscheidung, Geld entweder für Lebensmittel oder für andere essenzielle Dinge wie Miete oder Gesundheitsversorgung auszugeben. Laut einer kürzlich von IRC durchgeführten Bedarfsermittlung von über 2.800 Haushalten in fünf Gouvernements im Norden Syriens sind 84 Prozent der befragten Haushalte im Nordwesten Syriens verschuldet. Dadurch ist ihr dauerhafter Zugang zu grundlegenden Gütern bedroht. Viele Familien können außerdem zu negativen Bewältigungsstrategien wie dem Auslassen von Mahlzeiten, Kinderarbeit oder früher Heirat gezwungen sein.   

Trotz des steigenden Bedarfs und der neuen Aufmerksamkeit, die das Erdbeben im letzten Jahr ausgelöst hat, sind die bereitgestellten Mittel für humanitäre Hilfe nach wie vor völlig unzureichend. Im Jahr 2023 verzeichnete der humanitäre UN-Hilfsplan eine Finanzierungslücke von 62 Prozent. Durch weitere Kürzungen der Hilfe im Jahr 2024 wird sich die Situation voraussichtlich weiter verschlimmern: Erst letzte Woche beschloss der Bundestag einschneidende Kürzungen in der humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit. Besonders bestimmend ist hier die Kürzung von 30 Prozent für die Krisenbewältigung (Übergangshilfe). 

Ein Jahr nach dem Erdbeben ist das Leid der betroffenen Menschen in Syrien und der Türkei noch deutlich zu spüren. Viele trauern noch immer um den Verlust geliebter Menschen und die Zerstörung ihrer Häuser. Millionen Menschen in der Region sind nach wie vor vertrieben, können nicht arbeiten und suchen verzweifelt nach einer Rückkehr zur „Normalität“ nach den verheerenden Folgen des Erdbebens. IRC leistet weiterhin Nothilfe für die vom Erdbeben betroffenen Gemeinden, unterstützt den Wiederaufbau und fördert die Resilienz der Menschen vor Ort. Zu den Maßnahmen zählen unter anderem Schulungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sowie psychosoziale Unterstützung. 

Abeer, 30, ist Mutter von drei Kindern. Sie war bereits vor dem Erdbeben innerhalb Syriens in den Norden vertrieben. Nachdem ihr Haus bei dem Erdbeben zerstört wurde, lebt sie jetzt in einem Zelt. Sie sagt:

„Unser Leben war vor dem Erdbeben ganz anders als jetzt. Wir wohnten in einem Haus, das zerstört wurde. Jetzt leben wir hier in einem Zelt. Seit dem Erdbeben hat sich unser Leben verändert und ist viel schlechter geworden. Mein Mann hat [vor dem Erdbeben] gearbeitet. Jetzt ist er arbeitslos. Wenn ich für ein paar Stunden Arbeit finde, gehe ich arbeiten und lasse meine Kinder bei meinem Mann, damit wir ihnen Essen und Windeln kaufen können.“ 

Innerhalb der ersten Tage nach dem Erdbeben verteilte IRC Mittel in Höhe von jeweils 50.000 US-Dollar an 10 verschiedene Partnerorganisationen. Kurz darauf erhielten drei weitere Partnerorganisationen zusätzliche Finanzierungen. Die schnelle Bereitstellung von Bargeld und die Einrichtung von drei mobilen medizinischen Kliniken in den ersten Tagen des Einsatzes waren entscheidend für die sofortige Unterstützung der Betroffenen. Bis Ende 2023 erreichte die Erdbebenhilfe von IRC in Zusammenarbeit mit lokalen Partnern mehr als 195.000 Menschen mit Bargeld und mehr als 1,1 Millionen mit medizinischer Hilfe. 

Tanya Evans, IRC-Landesdirektorin für Syrien, sagt: 

„Die finanzielle Unterstützung von IRC ermöglichte es den Partnerorganisationen, die bereits vor Ort waren, schnelle und strategische Entscheidungen zu treffen. Auf der Grundlage ihrer umfassenden Kenntnisse der lokalen Gegebenheiten und ihrer Verpflichtung gegenüber den Teammitgliedern konnten sie die Mittel bestmöglich einsetzen: für Notversorgung, die Sicherheit der Mitarbeitenden und andere kritische Bedarfe. Partnerschaften sind ein Grundpfeiler der IRC-Programme in Syrien und der Türkei. Es ist wichtig, dass syrische Stimmen die Gespräche über die Bedarfe, den Wiederaufbau und die Hilfsmaßnahmen leiten. 

Während wir der tausenden Menschen gedenken, die vor einem Jahr ihr Leben verloren haben, fordern wir die internationale Gemeinschaft auf, Syrien nicht zu vergessen. Die Krise in Syrien geht in ihr vierzehntes Jahr. Wir brauchen jetzt die Unterstützung aller Akteur*innen für Syrien, um sowohl eine politische Lösung für die Krise zu finden, als auch eine Verpflichtung für eine langfristige und ausreichende Finanzierung zu erhalten. Nur so können wir die Millionen Menschen unterstützen, die jetzt auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, um zu überleben.“ 

 

IRC in Syrien 
IRC ist seit 2012 mit Maßnahmen im Nordwesten und Nordosten Syriens tätig. IRC arbeitet zusammen mit Partnerorganisationen weiter daran, vom Erdbeben betroffene Gemeinden zu unterstützen. Dazu gehören die medizinische Grundversorgung, psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung, Schutz sowie Maßnahmen zum wirtschaftlichen Wiederaufbau und Resilienz, z.B. Bargeldhilfen und Schulungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Erfahre mehr über unsere Erdbebenhilfe hier