Laut neuesten Berichten sind 1,1 Millionen Menschen, die Hälfte der Bevölkerung Gazas, von katastrophaler Ernährungsunsicherheit betroffen und stehen kurz vor einer Hungersnot. Diese Vorhersage für Gaza zeigt ein tiefgreifendes Versagen der Menschheit, so International Rescue Committee (IRC). Die Erklärung einer Hungersnot ist für die schrecklichsten Situationen vorbehalten. In den letzten zwölf Jahren gab es weltweit nur zwei Erklärungen von Hungersnot. 

Seit der Einführung der IPC-Skala (Integrated Food Security Phase Classification) im Jahr 2004 wurde noch nie eine Hungersnot im Nahen Osten ausgerufen. Bis heute wurden 27 Todesfälle von Hunger und Dehydrierung in Gaza gemeldet, darunter 23 Kinder. IRC bekräftigt die Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand sowie eine deutliche Ausweitung der Hilfsmaßnahmen, um eine weitere Katastrophe abzuwenden. 

Expert*innen weisen in der heute veröffentlichten IPC-Skala auf eine unmittelbar bevorstehende Hungersnot" im Norden Gazas hin, vorausgesagt für den Zeitraum zwischen heute und Mai 2024. Zeitgleich wird auf die ernste Gefahr einer Ausbreitung der Hungersnot in ganz Gaza hingewiesen. Die Menschen hungern aufgrund der ständigen Beschränkung der Hilfslieferungen durch Israel und der anhaltenden Blockade von Lebensmitteln, Medikamenten, Wasser und Treibstoff. Auch die unaufhörlichen Bombardierungen haben wichtige Infrastruktur wie Märkte und Bäckereien beschädigt oder zerstört. 

Praktisch alle Haushalte in Gaza lassen täglich Mahlzeiten ausfallen. Im Norden Gazas ist inzwischen jedes dritte Kind unter zwei Jahren akut unterernährt. In ganz Gaza sind mehr als eine Million Menschen die Hälfte der Gesamtbevölkerung von einer katastrophalen Ernährungsunsicherheit betroffen und einem erhöhten Risiko von akuter Unterernährung und Tod ausgesetzt. 

Im Vergleich zur letzten IPC-Analyse vom Dezember 2023 hat sich die akute Ernährungsunsicherheit in Gaza in den letzten Monaten verschärft und ausgeweitet. Zwischen Mitte Februar und Mitte März 2024 waren 79 Prozent der Menschen von katastrophalem Hunger betroffen, zwischen Mitte März und Juli 2024 wären es 92 Prozent. Dies steht im Gegensatz zum internationalen humanitären Völkerrecht, welches das Aushungern von Zivilist*innen als Mittel der Kriegsführung verbietet. Das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs besagt, dass das Aushungern von Zivilist*innen und die ,,Vorenthaltung von Gegenständen, die für ihr Überleben unerlässlich sind, einschließlich der vorsätzlichen Behinderung von Hilfslieferungen” ein Kriegsverbrechen ist. 

Wenn sich der Konflikt weiter zuspitzt, könnte laut einem Bericht bis August 2024 fast die Hälfte aller Kinder zwischen sechs Monaten und fünf Jahren in Gaza (46 Prozent) an akuter Unterernährung leiden. Davon wären etwa 114.000 Kleinkinder zwischen zwei und drei Jahre alt. Dies wäre ein 15-facher Anstieg gegenüber der Rate an akuter Unterernährung in Gaza vor dem Krieg, die vor dem 7. Oktober bei nur drei Prozent lag. Sollte sich die Prognose bewahrheiten, wäre Gaza einer der Orte mit der höchsten Prävalenz akuter Unterernährung weltweit. 

Sam Duerden, IRC-Teamleitung für das besetzte palästinensischen Gebiet, sagt:

,,Die Anzahl an Menschen, die in Gaza von einer Hungersnot bedroht sind, ist schockierend und beispiellos. Kinder in Gaza verhungern aufgrund einer von Menschen verursachten und vermeidbaren Krise. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Ein Waffenstillstand muss sofort umgesetzt werden und Israel muss die willkürliche Verweigerung von Nahrungsmitteln, Wasser, Treibstoff und wichtigen Medikamenten beenden. Alle Konfliktparteien müssen den schnellen und ungehinderten Transport humanitärer Hilfsgüter über alle möglichen Landrouten und Zugangspunkte sowie innerhalb Gazas ermöglichen und erleichtern. 

Die Folgen der israelischen Bombardierung, Blockade und Verweigerung von Hilfslieferungen sind katastrophal. Die Bemühungen, Hilfsgüter aus dem Süden Gazas in den Norden zu transportieren, werden behindert und die israelischen Behörden haben im Februar nur 25 Prozent der geplanten Hilfslieferungen zugelassen. Im Februar gelangten noch weniger Hilfsgüter nach Gaza als im Januar. Im Norden Gazas sterben bereits Kinder an Hunger und Dehydrierung. Alle, die die Situation kontrollieren oder beeinflussen können, müssen jetzt handeln. 

Die Lieferung von Hilfsgütern über Luft- und Seewege ist keine Lösung. Sie decken weder den Umfang noch die Kontinuität der benötigten humanitären Hilfe ab. Auch werden diese Art von Hilfslieferungen nicht den speziellen Bedürfnissen, insbesondere von unterernährten Kindern, gerecht. Sie sind teurer, ineffektiver und gefährlicher als die Landwege. Mitarbeitende humanitärer Hilfsorganisationen brauchen Sicherheit und Bewegungsfreiheit in Gaza, um unterernährte Kinder und alle bedürftigen Zivilist*innen zu erreichen. Nur ein Waffenstillstand und ein ungehinderter Zugang zu Hilfsgütern können das Leiden der Menschen wirklich lindern.”

Corina Pfitzner, Geschäftsführerin von IRC Deutschland, kommentiert:

,,Bereits Ende Februar warnten hochrangige Vertreter*innen der Vereinten Nationen den UN-Sicherheitsrat vor einer drohenden Hungersnot in Gaza. Jetzt ist der schlimmste Fall eingetreten und eine Hungersnot steht unmittelbar bevor. Der Tod von Kindern durch Unterernährung und Dehydrierung in Gaza ist nicht nur erschütternd, er ist vermeidbar. 

Die Entscheidung der Bundesregierung, sich an der Verteilung von Hilfsgütern aus der Luft zu beteiligen, ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Gut gemeint heißt hier nicht gut gemacht: Hilfslieferungen über den Luft- und Seeweg sind extrem teuer und ineffizient - und zudem gefährlich und würdelos für die Menschen, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Wir dürfen nicht vergessen, dass sie überhaupt nur notwendig sind, weil die israelischen Behörden die Bedingungen für sichere und effektive Verteilung über den Landweg nicht schaffen. 

Vor dem 7. Oktober 2023 erreichten ca. 500 Lastwagen mit humanitären Gütern Gaza pro Tag. In den ersten zwei Märzwochen 2024 waren es gerade mal 165 Lastwagen im Durchschnitt, also nur rund 33 Prozent im Vergleich zuvor. Nahrungsmittel nur per Luft abzuwerfen, wird dieses drastische Missverhältnis zwischen Bedarf und Angebot nicht ändern. Der einzige wirkungsvolle Weg für humanitäre Hilfe in Gaza ist der Landweg sowie die Öffnung und volle Auslastung aller Grenzübergänge. Dafür muss sich die Bundesregierung mit ihrem gesamten diplomatischen Gewicht einsetzen und Druck auf Israel ausüben."

Akute Unterernährung ist ein lebensbedrohlicher Zustand, der auftritt, wenn Kinder nicht genug Nahrung aufnehmen, um zu wachsen, sich zu entwickeln oder ein gesundes Immunsystem aufrechtzuerhalten. Schon eine Krankheit kann zu plötzlichen Gewichtsverlust führen. Ein stark unterernährtes Kind hat ein zwölfmal höheres Risiko, an häufigen Krankheiten wie Durchfall und Cholera zu sterben. Ein solcher Nährstoffverlust kann zu schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen führen, darunter starker Gewichtsverlust, Unfruchtbarkeit, Behinderung und schließlich Tod. Kinder sind besonders gefährdet und sterben oft doppelt so häufig wie Erwachsene. Diejenigen, die überleben, riskieren einen lebenslangen Kampf mit einem schlechten Gesundheitszustand.

Mit einer angereicherten Erdnusspaste zur Behandlung könnten sich mehr als 90 Prozent der betroffenen Kinder in Gaza innerhalb weniger Wochen erholen. Aber ohne einen sofortigen Waffenstillstand und ungehinderten Zugang zu Hilfsgütern werden noch mehr Kinder verhungern. 

IRC in Gaza

IRC leistet in Gaza lebensrettende medizinische Soforthilfe, einschließlich direkter medizinischer Versorgung in Krankenhäusern und der Verteilung von medizinischen Hilfsgütern und Arzneimitteln. IRC unterstützt Partnerorganisationen bei der Lieferung von Nahrungsmitteln und der Bereitstellung wichtiger Dienstleistungen in Notunterkünften, einschließlich Gesundheitsdiensten, psychosozialer Unterstützung, Bargeldhilfe und psychologischer Betreuung für Kinder und Betreuende. Sobald ein Waffenstillstand eintritt, wird die Unterstützung in den Bereichen Ernährung, Gesundheit, Wasser und sanitäre Einrichtungen aufgestockt.