Zwei Jahre nach dem Machtwechsel in Afghanistan und dem Versprechen der Bundesregierung, die afghanische Zivilbevölkerung nach dem 20 jährigen Militäreinsatz nicht im Stich zu lassen, ist Deutschlands Bilanz in der Aufnahme besonders gefährdeter Afghan*innen ernüchternd. 

Deutschland hatte mit der Aufnahme von 30.000 Personen seit August 2021– Ortskräfte und weitere besonders gefährdete Personen –, der Ankündigung eines Resettlement-Programms für afghanische Geflüchtete in Pakistan und der Implementierung eines Bundesaufnahmeprogramms in Europa lange die Vorreiterrolle in der humanitären Aufnahme afghanischer Staatsangehöriger inne. Mit 5,7 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht sind afghanische Staatsangehörige mittlerweile die drittgrößte Gruppe Geflüchteter, der Bedarf an Unterstützung ist demnach weiterhin gegeben. Deutschland steht nach Iran und Pakistan an dritter Stelle der Aufnahmeländer afghanischer Geflüchteter. Die Asylantragszahlen haben im ersten Halbjahr 2023 im Vergleich zum selben Zeitraum im letzten Jahr stark zugenommen – mit über 27.000 Erstanträgen um 80,7%

Die aktuellen Entwicklungen in der humanitären Aufnahme sind jedoch enttäuschend: Das Bundesaufnahmeprogramm, das ab Implementierung vor zehn Monaten die Aufnahme von bis zu 1.000 Personen monatlich bis zum Ende der Legislaturperiode im September 2025 ankündigte, kann bis Ende Juni nur 229 positive Aufnahmeentscheidungen und keine einzige Einreise nach Deutschland vorweisen. Das Programm steht auf schwachem politischem Fundament, was zuletzt auch deutlich wurde, als die Erteilung von humanitären Aufnahmevisa nach vereinzelten Missbrauchsvorwürfen über mehrere Monate hinweg ausgesetzt wurde und erst kürzlich mit verschärften Sicherheitsmaßnahmen wieder anlief.

Auch die Umsetzung der weiteren sicheren Zugangswege für gefährdete Afghan*innen bleiben hinter den politischen Zusagen zurück: Im Koalitionsvertrag wurde angekündigt, Ortskräfte nicht zurückzulassen und das Aufnahmeverfahren für sie zu reformieren. Doch zeigen aktuelle Recherchen von NDR, WDR, SZ und Lighthouse, wie restriktiv insbesondere mit ehemaligen Werkvertragsnehmer*innen umgegangen wird, obwohl ihre Gefährdung nachgewiesen ist. Auch das angekündigte Resettlement-Programm für afghanische Geflüchtete in Pakistan lässt auf sich warten. Dabei ist die Situation für viele der 1,7 Millionen geflüchteten Afghan*innen in dem Land prekär: Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, zum Arbeitsmarkt und zu erschwinglichen Unterkünften ist erschwert. Auch eine Abschiebung zurück nach Afghanistan kann drohen. 

Derzeit warten 14.000 Personen mit Aufnahmezusage - Ortskräfte und weitere besonders gefährdete Personen, die unabhängig vom Bundesaufnahmeprogramm eine Aufnahmezusage erhalten hatten - in Afghanistan, Pakistan oder Iran auf ihr Visum und die Möglichkeit, nach Deutschland einzureisen. Da nur noch an der deutschen Botschaft in Islamabad die Sicherheitsüberprüfungen und damit auch die Visumsverfahren durchgeführt werden, wird die Botschaft in Islamabad zunehmend zum Nadelöhr, obwohl sie bereits seit Jahren - insbesondere aufgrund langwieriger Familiennachzugsverfahren - chronisch überlastet ist. 

Dabei sind viele afghanische Geflüchtete in Deutschland sogar faktisch vom Familiennachzug ausgeschlossen. Anders als noch vor dem Machtwechsel in Afghanistan erhalten zwar fast alle afghanischen Asylbewerber*innen einen Schutzstatus in Deutschland. Jedoch erhält ein Großteil lediglich ein Abschiebungsverbot, womit Familiennachzug nur in Härtefällen möglich ist. 

IRC Deutschland fordert die Bundesregierung auf, dringend ihrer Ankündigungen im Koalitionsvertrag nachzukommen und das Bundesaufnahmeprogramm vollumfänglich und unbürokratisch umzusetzen. Das Ortskräfteverfahren muss unabhängig davon aufrechterhalten werden und auch gefährdeten Personen mit Werkverträgen für deutsche Institutionen eine Aufnahme ermöglichen.Auch muss die Bundesregierung das Resettlement-Programm implementieren und Familiennachzugsverfahren beschleunigen. Schutzberechtigten Afghan*innen in Deutschland darf darüber hinaus das Recht auf Familie nicht aufgrund ihres Aufenthaltsstatus verwehrt werden. Der Familiennachzug sollte nicht nur für subsidiär Schutzberechtigte und anerkannte Flüchtlinge, sondern auch für Personen mit Abschiebungsverbot angeglichen werden.

Corina Pfitzner, Leitung IRC Deutschland, sagt:

,,Dass 10 Monate nach Implementierung des Bundesaufnahmeprogramms noch keine einzige Person über das Programm eingereist ist und kaum Aufnahmezusagen erteilt wurden, ist eine bittere Zwischenbilanz. Dabei hat der Bedarf für die Aufnahme besonders gefährdeter Afghan*innen vor dem Hintergrund der weiterhin akuten Gefährdungslage nicht an Dringlichkeit verloren. 

Auch die Ankündigung der Bundesregierung, afghanische Staatsangehörige über Resettlement aus Pakistan aufzunehmen, wurde noch nicht in die Tat umgesetzt. Dadurch wird afghanischen Geflüchteten, die sich derzeit unter den prekärsten Bedingungen in Pakistan aufhalten, die Option für eine Zukunft in Sicherheit weiter vorenthalten. 

Hinsichtlich des Familiennachzugs hat Deutschland auch einen enormen Nachholbedarf. Viele afghanische Geflüchtete, die anerkannt nicht nach Afghanistan zurückkehren können, sind über viele Jahre oder gar gänzlich aufgrund restriktiver aufenthaltsrechtlicher Regelungen von ihrer Familie getrennt. Menschen mit Abschiebungsverbot muss der Zugang zu Familiennachzug ermöglicht und die Verfahren allgemein wie angekündigt beschleunigt und digitalisiert werden.

Die Bundesregierung sollte alles daran setzen, ihrer humanitären Verantwortung nachzukommen – und besonders gefährdeten Afghan*innen in Deutschland den notwendigen Schutz und Sicherheit zu geben. Fehlende Ressourcen für das Bundesaufnahmeprogramm, eine überlastete deutsche Botschaft in Islamabad und bis dato zu komplizierte und langwierige Aufnahme- und Resettlementverfahren werden der Erfüllung dieser Verantwortung jedoch weiter im Weg stehen, wenn die politischen Stellschrauben nicht zeitnah korrigiert werden."