Sechs Monate nach dem tödlichen Erdbeben der Stärke 7,8, das am 6. Februar die Türkei und Syrien erschütterte, fehlt Millionen von Frauen und Kindern im Nordwesten Syriens lebenswichtige humanitäre Versorgung. Ihr Zugang zu Grundnahrungsmitteln und medizinischer Versorgung steht auf dem Spiel, warnt International Rescue Committee (IRC). 

Vor genau einem Monat entschied sich der UN-Sicherheitsrat gegen die erneute Genehmigung von grenzüberschreitender UN-Hilfe über Bab al Hawa, der von den Vereinten Nationen meist genutzte Grenzübergang, um Bevölkerungsgruppen im Nordwesten Syriens mit humanitärer Hilfe zu erreichen. Die UN stellen 80 Prozent der Nahrungsmittelhilfe im Nordwesten des Landes bereit, wo schätzungsweise 90 Prozent der Bevölkerung in Armut leben und Schwierigkeiten haben, ihre Familien zu ernähren.   

Ein Mitglied des IRC-Teams im Nordwesten Syriens erzählte uns: „Die Menschen hier sind wirklich schockiert – wie kann der UN-Sicherheitsrat behaupten, Menschen zu schützen und für Frieden in der Welt einzustehen, und gleichzeitig den Grenzübergang niederlegen, der Millionen von Menschen hier am Leben hält?“ 

Die Öffnung zweier zusätzlicher Grenzübergänge durch ein direktes Abkommen zwischen den Vereinten Nationen und der syrischen Regierung hat willkommene neue Wege für die Lieferung von Hilfsgütern in die Erdbebenregionen geschaffen. Seit dem Erdbeben haben fast 3.750 Lastwagen mit UN-Hilfsgütern aus der Türkei den Nordwesten Syriens erreicht. Etwa 20 Prozent kommen über die beiden zusätzlichen Übergänge und 80 Prozent, also etwa 3.000 Lastwagen, über den vom UN-Sicherheitsrat verfügten Übergang Bab al Hawa. Seit die Resolution des UN-Sicherheitsrats im letzten Monat nicht verlängert wurde, gelangen keine UN-Lastwagen mehr über diesen wichtigen Grenzübergang. Die beiden zusätzlichen Übergänge werden ebenfalls am 13. August auslaufen, falls die UN keine weitere Verlängerung aushandelt.  

Seit 12 Jahren steigt der Bedarf an humanitärer Hilfe im Nordwesten Syriens immer weiter an und verschlimmert sich zusehends. 4,1 Millionen Menschen in dieser Region sind auf humanitäre Hilfe angewiesen – die meisten sind Frauen und Kinder. Mehr als die Hälfte der betroffenen Menschen hat über die grenzübergreifenden Lieferungen jeden Monat Hilfe erhalten. Die Verwüstungen durch die Erdbeben vor 6 Monaten haben diese ohnehin schon gefährdeten Gemeinden und die Kapazitäten der humanitären Hilfe überfordert.  

Ahmad Hamed, IRC-Mitarbeitender im Nordwesten Syriens, sagt:

„Im Moment ist es wichtig, dass die Syrer*innen im Nordwesten des Landes die Hilfe bekommen, die sie brauchen. Sie spüren nicht nur weiterhin die Folgen des Erdbebens und des jahrelangen Konflikts, in den letzten Wochen herrschte in der Region auch noch eine extreme Sommerhitze. Das hatte direkte Auswirkungen auf Tausende von Menschen, die immer noch keinen Zugang zu sauberem Wasser und angemessenen Unterkünften haben.  

Das Erdbeben und der andauernde Konflikt haben langfristige Belastungen und Traumata verursacht, die vor allem den Bedarf an psychischer und psychosozialer Unterstützung erhöhen. Zwei von drei Kindern, die nach dem Erdbeben von IRC befragt wurden, zeigten Anzeichen von psychischer Belastung, sie weinten viel, waren oft traurig und berichteten von Albträumen. Es ist kaum zu fassen, welches fürchterliche Leid die Menschen ertragen mussten. Ein Junge hat bei dem Erdbeben auf tragische Weise sein Zuhause und seine Mutter verloren. Eine ältere Frau erzählte uns, wie ihr Leben durch die Katastrophe zerstört wurde. Sie berichtete unserem Team, dass sie auch nach sechs Monaten kaum essen, trinken oder schlafen kann und ständig weint, weil ihr Sohn, seine Frau und deren Kinder ums Leben kamen. Als globale Gemeinschaft haben wir eine humanitäre Verpflichtung, diesen Menschen zu helfen. Wir können die Syrer*innen im Nordwesten des Landes nicht sich selbst überlassen. Die Aufrechterhaltung und Ausweitung des Zugangs für humanitäre Hilfe ist derzeit der einzig richtige Weg.“ 

Tanya Evans, IRC-Landesdirektorin für Syrien, sagt:

„Die Gemeinden im Nordwesten Syriens lebten bereits mit den physischen und seelischen Narben von mehr als zwölf Jahren Konflikt. Zusätzlich zerstörte das Erdbeben die ohnehin fragile Infrastruktur, führte zu weiteren Vertreibungen sowie teils tödlichen Verletzungen von über 13.000 Menschen. Heute, sechs Monate später und ohne Erneuerung der Resolution des UN-Sicherheitsrats, müssen sie sich auch noch darum sorgen, woher ihre nächste Mahlzeit kommen wird. Stattdessen sollten sie eigentlich die Chance haben, sich um den Wiederaufbau ihrer Existenz zu kümmern.  

Die Situation könnte sich in der nächsten Woche noch weiter verschlechtern, wenn auch die Vereinbarung über die Nutzung der zwei zusätzlichen Grenzübergänge durch die UN ausläuft. Diese wurden nach dem Erdbeben eingerichtet, um angesichts des außerordentlichen humanitären Bedarfs zusätzliche Hilfe leisten zu können. Seitdem ist der Bedarf nicht geringer geworden, aber es besteht die sehr reale Möglichkeit, dass es ab dem 14. August keinen nutzbaren Grenzübergang mehr für die UN nach Nordwestsyrien geben wird. Wenn das passiert, wird das katastrophale Folgen für Millionen von betroffenen Syrer*innen haben.“ 

IRC fordert die Vereinten Nationen und die internationale Gemeinschaft zum dringenden Handeln auf, um den langfristigen, nachhaltigen und sicheren Zugang für humanitäre Hilfe im Nordwesten Syriens zu gewährleisten. Das beinhaltet auch eine erneute Resolution des UN-Sicherheitsrats. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, humanitäre Hilfe einzuschränken oder sie an Bedingungen zu knüpfen, wenn der Bedarf so hoch ist wie noch nie zuvor.