„Zuerst müssen Frauen Selbstvertrauen aufbauen“, erklärt Razia Sultana. „Sie müssen fähig sein zu sagen:  Ja, ich kann. Ich bin keine Last. Wenn Frauen sich das bewusst machen, können sie alles erreichen.“

Porträt von Razia
Razia Sultana widmet ihr Leben den Rechten der Rohingya-Frauen.
Foto: Habiba Nowrose/IRC

Razia, 47, ist eine Rohingya-Aktivistin, die Frauen in ihrer Gemeinde unterstützt. Kurz nach ihrer Geburt floh ihre Familie aus Myanmar, wo sie als Rohingya, die -Muslime sind, seit Jahrzehnten verfolgt werden. So kam Razia nach Bangladesch in die Stadt Chittagong.

Seit über 20 Jahren setzt sich die Anwältin dort nun für Rohingya-Frauen in ihrer Gemeinde ein – seit 2017 macht sie dies zu ihrer Haupttätigkeit.

Razia spricht in Bangladesh
Razia ist Lehrerin und Anwältin - Seit 2017 widmet sie sich Vollzeit ihrer Tätigkeit als Aktivistin.
Foto: Habiba Nowrose/IRC

Zwischen 2016 und 2017 flohen rund 745.000 Rohingyas aus Myanmar nach Bangladesch. Während ihrer Flucht, erfuhren sie verschiedenste Arten von Gewalt.

Razia in einem Flüchtlingslager in Bangladesch
Rund eine Million Rohingya leben heute in weitläufigen Flüchtlingslagern in Bangladesch, Razia geht in die Gemeinde, um das Bewusstsein für Frauenrechte zu fördern.
Foto: Habiba Nowrose/IRC

„Mehr als 300 Dörfer wurden über Nacht niedergebrannt. Es war wie ein Massaker“, erklärt Razia. „Die Menschen kämpften um ihr Leben, kamen über die Grenze. Auf der Suche nach Schutz überquerten sie den Fluss, der Myanmar und Bangladesch trennt. Überall waren Rohingyas - auf der Strasse, auf dem Feld, im Fluss. Ich habe es gesehen. Es war eine Katastrophe. Die Geflüchteten wussten nicht wohin und hatten keine Nahrung. Bengalen kamen und halfen diesen Menschen. Nach nur einer Woche öffnete Bangladesch offiziell die Grenze und gab ihnen Schutz.“

Razia begann, mit Rohingya-Frauen über ihre Erlebnisse zu sprechen. Sie dokumentierte tausende Erfahrungsberichte. „Aus den Gesprächen wurde klar, dass sie nicht nur ihre Familie verloren hatten. Viele wurden vergewaltigt. Ich war schockiert, als ich davon hörte.“

Razia sitzt mit einer Frau und ihrem Sohn in ihrem Frauenzentrum in Bangladesch
2017 began Razia Erfahrungsberichte über Frauen die aus Myanmar geflohen sind zu dokumentieren. Die Geschichten schockierten sie.
Foto: Habiba Nowrose/IRC

Im April 2017 sprach Razia als erste Rohingya vor dem UN-Sicherheitsrat. „Ich war nervös. Doch es war eine einmalige Chance: Ich wusste, dass ich berichten musste, dass ich erzählen musste, was im Lager und in Myanmar geschieht. Alle waren schockiert, als ich sagte: ‚Der Sicherheitsrat hat versagt‘. Aber es fühlte sich gut an, die Wahrheit zu erzählen, denn wir haben es hier mit sexualisierter Gewalt zu tun – mit Gewalt gegen Frauen“.

Tausende von Rohingya leben heute im weltgrößten Flüchtlingslager von Kutupalong in Bangladesch, zwei Autostunden vom beliebten Urlaubsort Coxs Bazar entfernt.

Razia sitzt in einem Auto in Bangladesh
Razia reist um die Welt, um sich für Rohingya-Frauen zu engagieren, aber kommt immer wieder nach Kutapalong zurück um mit den Frauen vor Ort zu reden.
Foto: Habiba Nowrose/IRC

Bambushäuser überziehen die Hügel. Wie ein Labyrinth schlängeln sich schmale Wege zwischen den hüftbreit auseinander liegenden Hütten. „Ich kann mir keinen unerträglicheren Ort vorstellen. Es ist wie eine Haftanstalt. Das Lager ist überfüllt. Es ist nicht sicher hier, besonders nicht für junge Mädchen. Sie werden rund um die Uhr belästigt. Eine Frau erzählte mir, dass sie nachts das Bein ihrer Tochter mit einem Seil an ihr eigene Bein bindet, damit diese nicht entführt wird. Viele Frauen sitzen in ihren Hütten fest. Sie sind häuslicher Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt“.

Ich kann mir keinen unerträglicheren Ort vorstellen. Es ist wie eine Haftanstalt.

Razia schaut Frauen in ihrem Frauenzentrum zu
Razia beobachtet Rohingya-Frauen, die sich in ihrem Frauenzentrum austauschen.
Foto: Habiba Nowrose/IRC

Razia eröffnete daraufhin ein Frauenzentrum - um Frauen zu stärken und ihnen ihre Rechte zu erklären. „Am Anfang haben die Gemeindevorsteher den Frauen verboten, mein Zentrum zu besuchen. Sie sagte, das sei mit unserer Religion nicht vereinbar. Frauen dürften sich gegenüber Männern nicht emanzipieren. Ich versuchte ihnen klarzumachen, dass Frauen Menschen sind und dass sie Rechte haben. Es war sehr schwierig, sie zu überzeugen, aber langsam begreifen sie, dass ich nichts Schlechtes mache.“

Ich versuchte ihnen klarzumachen, dass Frauen Menschen sind und dass sie Rechte haben.

Razia spricht mit Männer im Flüchtlingslager in Bangladesch
Razia berät sowohl Männer als auch Frauen über die Bedeutung der Frauenrechte. Nicht alle Leute in der Gemeinde unterstützen ihre Arbeit - aber sie hat nicht aufgegeben und langsam ändert sich ihre Meinungen.
Foto: Habiba Nowrose/IRC

„Frauen werden hier diskriminiert. Sie wachsen auf und denken, sie hätten keine Rechte“, fährt Razia fort. „Die Konservativen unter uns reden den Männern ein, dass sie die Frauen besitzen, dass sie sie dominieren können. Aufgrund ihrer Scham und Ohnmacht wehren sich die Frauen dagegen nicht. Sie haben ja bislang gelernt, dass Männer mit ihren Taten ungestraft davon kommen.“

Razia und Frauen in ihrem Frauenzentrum halten Schilder in Bangladesch
Razia organisiert Treffen mit Frauen, die sie dazu ermutigen, über ihre Rechte und ihren Wert nachzudenken. Hier steht sie Seite an Seite mit ihnen, nachdem sie daran gearbeitet hat, welche Botschaften sie der Gemeinschaft übermitteln möchten.
Foto: Habiba Nowrose/IRC

Razia schaut nachdenklich, als sie sich an ein Mädchen erinnert, das sie unterstützt hat. „Ein Vergewaltigungsopfer – sie versuchte zweimal Selbstmord zu begehen. Ich fragte sie, warum sie das tat und sie antwortete: ‚Die Leute wissen, was passiert ist und gehen mir aus dem Weg.  Ich schäme mich.“ Razia versicherte dem Mädchen, dass nicht sie die Schuld trägt. Deshalb berät sie auch die anderen Gemeindemitglieder. Es liege in ihrer Verantwortung, diese Mädchen zu schützen.

Mit der von Koica finanzierten ADI (Asian Dignity Initiative) baute Razia im Lager ein Frauen-Netzwerk auf. Sie begann mit der Ausbildung von vier Rohingya-Frauen, die Aufklärungsarbeit leisten sollten. „Nach vier Monaten kamen plötzlich immer mehr Frauen zu uns. Ich habe mittlerweile 120 Freiwillige, die mehr als 3.000 Frauen erreichen können.“

Razias Einfluss wird sichtbar, wenn man sie beim Besuch von Familien im Lager begleitet, wo sie jeweils mit ausgestreckten Armen freudig begrüßt wird.

Die Aktivistin sagt, ihre Motivation, Frauen zu unterstützen, komme von Mutter Theresa, ihrer eigenen Mutter - und der Schulleiterin ihrer Schule. „Sie kontrollierte die größte Schule in Chittagong. Sie hat sich nie von jemandem dominieren lassen. Mein Gott, wenn ich mich an ihr Gesicht erinnere... sie war so eine mutige Frau“, sagt Razia. „Meine Mutter hat Frauen immer geholfen - sie war die perfekte Rohingya-Frau.“

Nun ist es Razia, zu der die im Lager lebenden Rohingya-Frauen aufschauen. „Leute kommen zu mir und sagen: „Bitte, ich will dass meine Tochter so wie du wird,““ erzählt sie.

Die Kritik aus der Gemeinschaft hält sie nicht davon ab, ihre feministische Botschaft weiterhin im Lager zu verbreiten.

Razia spaziert am Meer in Bangladesch
Razia sagt: „Frauen können in jeder Umgebung überleben, ich halte einfach ihre Hand, während sie selbst ihren Weg gehen.“
Foto: Habiba Nowrose/IRC

„Frauen müssen reden,“ meint die Aktivistin. „Es geht nicht darum, dass wir die Macht übernehmen wollen. Es geht vielmehr um Zusammenarbeit. Wenn Frauen diskriminiert werden, kann man keinen Frieden finden.“

 

Wie hilft das International Rescue Committee in Bangladesch?

Das International Rescue Committee unterstützt Aktivist*innen wie Razia . In Bangladesch sort die Organisation für den Aufbau und Unterhalt „sicherer Räume“, in denen Rohingya-Frauen und -Mädchen Schutz finden, über ihre Rechte aufgeklärt werden und Kompetenzen erlernen können, mit denen sie sich eine bessere Zukunft aufbauen können.