• Seit August 2021 sind mehr als 1,6 Millionen Afghan*innen in Nachbarländer Afghanistans geflohen. Davon befinden sich 99 Prozent in Iran und Pakistan. Afghan*innen stellen nun weltweit die drittgrößte Bevölkerungsgruppe dar, die auf der Flucht ist.

  • Die EU-Staaten haben 2022 nur 271 afghanische Geflüchtete über Resettlement-Programme neu aufgenommen. Das sind lediglich 0,1 Prozent der über 270.000 Afghan*innen, die laut der UN derzeit auf Resettlement-Bemühungen angewiesen sind.

  • Mit dem im Oktober 2022 gestarteten Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan sollen in einem Zeitraum von drei Jahren monatlich 1.000 Afghan*innen aufgenommen werden – bisher ist unter dieser Initiative noch keine einzige Person nach Deutschland eingereist.

  • Afghan*innen werden Berichten zufolge am häufigsten an den europäischen Grenzen abgewiesen. 2021 machten Afghan*innen 40 Prozent der in den EU registrierten Pushbacks aus.

  • 92 Prozent der Afghan*innen, die im Jahr 2023 bis März von IRCs Expert*innen für psychische Gesundheit auf Lesbos und in Athen betreut wurden, litten an Angstzuständen und 86 Prozent an Depressionen.

  • Der Anteil positiver Asylbescheide für Afghan*innen ist in der EU, Norwegen und der Schweiz von 66 Prozent im Jahr 2021 auf 54 Prozent im Jahr 2022 gesunken.

Eine neue Studie von International Rescue Committee (IRC) zeigt, dass die EU-Staaten, darunter auch Deutschland, die Bedarfe von schutzsuchenden Afghan*innen konsequent vernachlässigt haben. Millionen von Afghan*innen sind demnach in Afghanistan oder den Nachbarländern festsitzen. Währenddessen erhalten diejenigen, die es nach Europa schaffen, keine ausreichende Sicherheit und viele ohne längerfristige Perspektiven. 

Seit 2021 haben die EU-Staaten zahlreiche dringliche Zusagen gemacht und Aufnahmeprogramme aufgesetzt, um gefährdete Afghan*innen in Sicherheit zu bringen und ihnen ein neues Leben zu ermöglichen, wie das Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan. Doch der neue IRC-Bericht Two years on: Afghans still lacks pathways to safety in the EU (Zwei Jahre später: Sichere Zugangswege nach Europa für Afghan*innen noch nicht in Sicht) zeigt, dass viele dieser Programme nicht zustande gekommen sind oder weit hinter ihrer Zielsetzung liegen. Der Bericht skizziert einen Plan, um diese akuten Herausforderungen zu bewältigen und eine langfristige und nachhaltige Lösung für eine menschenwürdige Aufnahme von Afghan*innen in der EU zu gewährleisten. 

IRC ruft die Bundesregierung dringend zu Folgendem auf: 

  1. Ausweitung der Aufnahmekriterien für das Bundesaufnahmeprogramm (BAP) für Afghanistan: Der Zugang zum BAP ist zu restriktiv, da nur vorab genehmigte Organisationen Fälle einreichen können. Außerdem sind die Aufnahmekriterien des Programms zu eng gefasst und müssen ausgeweitet werden. Vor dem Hintergrund, dass die Entwicklungen zur Umsetzung des Programms dynamisch sind und die Unterstützung von Schutzsuchenden von aktuellen Informationen abhängt, fordert IRC außerdem eine bessere Datenverfügbarkeit und Transparenz über das Verfahren und die Aufnahmezahlen.
  2. Aufnahme der Visabearbeitung für Menschen mit BAP-Aufnahmezusage: Die Aussetzung der Ausstellung von Einreisevisa für Afghan*innen bedeutet eine existenzielle Notlage. Die Bundesregierung sollte mehr Ausreisemöglichkeiten für alle Betroffenen ermöglichen und Personen mit Aufnahmezusagen in Transitstaaten bis zur Evakuierung  unterstützen. 
  3. Zügige Umsetzung der Resettlementzusagen für Afghan*innen in Pakistan: IRC begrüßt die Absicht Deutschlands, erstmals über ein Resettlement-Programm afghanische Geflüchtete aus Pakistan aufzunehmen. Diese Zusage sollte so schnell wie möglich umgesetzt werden und das Verfahren vereinfacht und wenn möglich digitalisiert werden.  
  4. Fortsetzung und Ausweitung weiterer sicherer Zugangswege wie der humanitären Aufnahme von (ehemaligen) Ortskräften deutscher Behörden und dem Zugang zu Familienzusammenführung: Wie im Koalitionsvertrag vereinbart, sollte die Bundesregierung das Ortskräfteverfahren verbessern, etwa durch eine Berücksichtigung von Personen, die ohne direkten Arbeitsvertrag aber aufgrund ihrer Tätigkeit für deutsche Einrichtungen gefährdet sind. Im Koalitionsvertrag ist auch die Gleichstellung des Rechts zu Familiennachzug zugesagt. Aktuell werden den meisten afghanischen Geflüchtete nur nationale Abschiebeverbote zuerkannt, mit denen der Familiennachzug nur unter erschwerten Voraussetzungen möglich ist.  
  5. Umsetzung der Aufnahmen für alle Asylbewerberinnen aus Afghanistan: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) setzt die Einschätzung der EU-Asylagentur dass die Verfolgung von Frauen in Afghanistan die Schwelle zur Gewährung von Flüchtlingsschutz erreicht, noch nicht vollständig um. Obwohl das BAMF davon ausgeht, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft grundsätzlich erfüllt sind, sollte die Grenze noch deutlicher gezogen und allen Asylbewerberinnen aus Afghanistan automatisch der Flüchtlingsstatus zuerkannt werden. 

Corina Pfitzner, Leitung IRC Deutschland, kommentiert:  

,,Im August jährt sich der Machtwechsel in Afghanistan zum zweiten Mal. IRC begrüßt die anhaltenden Bemühungen Deutschlands, besonders gefährdete Afghan*innen durch die Aufnahme in Deutschland zu unterstützen - insbesondere durch die Umsetzung des Bundesaufnahmeprogramms. Gemessen wird die Bundesregierung jetzt an der Umsetzung dieser Zusagen. 

Doch ein halbes Jahr nach Start des Bundesaufnahmeprogramms liegt noch keine Aufnahmezusage vor. Aktuell ist das Programm aufgrund ausgesetzter Ausreise- und Visumverfahren pausiert. Ohne Nachbesserungen im Bundesaufnahmeprogramm wie die Einrichtung einer zentralen staatlichen Anlaufstelle für Schutzsuchende, die Berücksichtigung von in Nachbarländer geflüchteten Afghan*innen sowie Transparenz über die Auswahlkriterien werden programmatischen Schwächen weiterhin zu zusätzlichen Belastungen und Gefahren für schutzbedürftige Menschen führen.  

Tausende von Afghan*innen stehen bei der Suche nach dauerhaftem Schutz vor immensen Hindernissen. Dazu gehören ein Mangel an transparenten Informationen über die verfügbaren sicheren Zugangswege, enge Aufnahmekriterien, oft unüberwindbare Anforderungen zum Nachweis ihrer Identität und ihrer Schutzbedürftigkeit sowie Schwierigkeiten bei der physischen Ausreise aus Afghanistan oder den Nachbarländern. Infolgedessen sitzen Millionen von Menschen in der Schwebe, wodurch einige der Menschen auf der Suche nach Sicherheit und Schutz auf gefährliche Routen gezwungen werden. 

IRC fordert die Bundesregierung daher auf, dringend das Bundesaufnahmeprogramm nachzubessern und zusätzliche sichere Wege nach Deutschland auszubauen. Alle schutzsuchenden Afghan*innen sollten in Deutschland mit Würde empfangen werden, unabhängig von ihrer Ankunftsweise.” 

Zahra*, 60 Jahre alt, aus Afghanistan und derzeit in Deutschland lebend, sagt:  

,,Ich hatte hohe Hoffnungen an mein Asylverfahren. Und dann hat es zweieinhalb Jahre gedauert, bis ich eine positive Antwort erhalten habe. Das lange Warten hat es für mich so schwierig gemacht. Dazu kommt, dass ich mich auch eine unglaubliche Angst verfolgte, da ich ohne meine beiden Kinder in einem fremden Land war – in einem Land, dessen Kultur ich nicht kannte. Ich hatte keine andere Wahl, als zu warten und zu hoffen, dass ich meinen Kindern eines Tages hier ein sicheres Leben bieten könnte. Leider kann ich das immer noch nicht gewährleisten. Mein ältester Sohn ist immer noch in Kabul und ich vermisse ihn sehr.  Ich hoffe inständig, dass ich ihn bald wieder in meinen Armen halten kann.”