Angesichts akuter humanitärer Krisen haben sich unsere Mitarbeiterinnen Rula Ifteiha und Heba Hasan darüber ausgetauscht, was der Ramadan in diesem Jahr für sie bedeutet.

Unabhängig davon, ob du Ramadan feierst oder nicht, möchten wir dich ermutigen, die bewegenden Worte der beiden zu lesen.

Heba: Für viele muslimische Menschen ist der Ramadan ein reflektierender Monat. In dieser Zeit geben wir unser Bestes, um unsere Werte mit unseren Handlungen in Einklang zu bringen, unsere Dankbarkeit zu vertiefen und unsere Solidarität mit den Menschen auf der ganzen Welt zu zeigen. Angesichts der Ereignisse im Sudan, DRC, Myanmar, Palästina, Jemen, Syrien und verschiedenen anderen muslimischen Gemeinschaften ist mir das in diesem Jahr besonders wichtig.

Fühlt sich Ramadan für dich dieses Jahr anders an? 

Rula: Dieser Ramadan kommt in der Tat zu einem emotionalen, herzzerreißenden Zeitpunkt. Ich weiß nicht, ob es Worte gibt, um zu beschreiben, wie tief erschüttert und verändert ich mich fühle.    

Als jemand, der die Ehre hat, Palästinenserin zu sein, ist meine Identität ein Labyrinth der Gefühle. Ich empfinde großen Stolz und unendlichen Herzschmerz. In einem Moment bin ich der Hoffnung so nah und im nächsten falle ich in ein Loch der Verzweiflung. Ich fühle eine unauflösliche Verbindung, die mich nach Palästina und zu den verbliebenen Palästinenser*innen zieht und sehne mich danach, bei ihnen zu sein, während sie sich an unsere Heimat klammern. Sie kämpfen allein durch ihre Existenz darum, als Menschen behandelt zu werden und in unserer Heimat zu leben - wirklich zu leben - so frei, wie es unsere Vorfahren vor der Besatzung und den endlosen Massakern und einem Jahrhundert der Ungerechtigkeit einmal waren. 

Ich weiß, dass so viele dieses Gefühl nachempfinden können, darunter Menschen aus Sudan, Kongo, Burma, Myanmar, Syrien und Somalia. Es gibt zahlreiche weitere Gruppen, die ich nicht erwähnt habe. Meine Solidarität gilt auch allen Menschen, die unwiederbringlich mit den Heimatländern ihrer Vorfahren und mit marginalisierten Identitäten verbunden sind und allen Menschen, die schon viel zu lange unter Menschenrechtsverletzungen leiden. 

Ramadan ist ein heiliger, spiritueller Monat für Muslim*innen. Er soll eine Zeit der Gemeinschaft, der Spiritualität, des guten Willens und der Freude sein.  Ich denke, das Bedürfnis nach Gemeinschaft, Spiritualität und gutem Willen bleibt bestehen und ist in diesem Ramadan noch viel stärker ausgeprägt. Aber die Freude scheint dieses Jahr erloschen zu sein. Ich bin in ständiger Trauer, geplagt von den endlosen Bildern palästinensischer Leichen, verhungernder Kinder, die um Nahrung für sich und ihre Familien betteln, von Krebspatient*innen, denen ihr Menschenrecht auf Behandlung und Würde verweigert wird und von Müttern, die nach einer Geburt unter akut traumatischen Bedingungen weinen, sich an ihre hungrigen Neugeborenen klammern und keine Muttermilch produzieren können, weil sie unterernährt sind. 

Wenn ich an die vielen Palästinenser*innen in Gaza denke, die sich immer noch dafür entscheiden, tapfer und treu zu fasten, dann kann ich nur sagen, dass es mir das Herz bricht. Wie wir alle haben auch sie es verdient, in ihren Häusern friedlich zu beten und mit ihren noch lebenden Familienangehörigen Iftar zu feiern. 

 

Denkt daran, dass Hoffnung eine mächtige Waffe ist, auch wenn alles andere verloren ist.

 

Ich bin vorsichtig optimistisch, dass in diesem heiligen Monat eine radikale Hoffnung bestehen und wachsen wird - denn Hoffnung ist alles, was wir haben. Wenn wir beten und fasten und an eine Macht glauben, die größer und weitaus mächtiger ist als irgendjemand oder irgendetwas in dem irdischen Raum, den wir alle unser Zuhause nennen, mögen wir uns an die Worte erinnern, die Nelson Mandela in seinen unveröffentlichten Gefängnisbriefen zärtlich zu Papier brachte: „Denkt daran, dass Hoffnung eine mächtige Waffe ist, auch wenn alles andere verloren ist.“   

Fühlt sich jeder Ramadan für dich anders an? 

Heba: Wie für so viele Muslim*innen fühlt sich dieser Ramadan auch für mich anders an. Jeder Ramadan erinnert uns daran, für die muslimischen Gemeinschaften überall auf der Welt zu beten. Doch das Ausmaß des Leidens in diesem Jahr ist besonders herausfordernd. Es ist ein Gefühl, das ich und so viele Muslim*innen, die ich kenne, teilen. Ich frage mich immer wieder, was es bedeutet, mit den betroffenen muslimischen Gemeinschaften weltweit solidarisch zu sein?  Ich denke viel darüber nach, wie ich mich bewusst für das Fasten entscheide, während so viele andere trotz fehlendem Zugang zu Essen fasten. Ich habe ehrlich gesagt keine passenden Antworten auf diese Fragen, aber sie motivieren mich, diesen heiligen Monat mit mehr Bewusstsein wahrzunehmen.  

Es gibt bestimmte Gefühle, die für mich jeden Ramadan aufkommen. Zum Beispiel bin ich während des Ramadan viel sensibler. (Es kann auch sein, dass das fehlende Essen und Koffein tagsüber mich noch nervöser macht). Aber ich denke, dass diese 30 Tage in gewisser Weise ein intensiver Mikrokosmos dafür sind, wie wir mit der Welt umgehen, wie wir mit Verlusten umgehen, mit unserem eigenen Ego verhandeln, uns für unsere Gemeinschaft einsetzen und unsere Zeit priorisieren. Irgendwie fühlt es sich so an, als würde das Verzichten bestimmter Aktivitäten im Alltag mich die Dinge, die übrig bleiben, intensiver wahrnehmen lassen.  

Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, war der Ramadan eine aufregende Zeit, in der vor allem die Mahlzeiten und das Iftar im Mittelpunkt standen. Heute, als Erwachsene, hat sich meine Sichtweise von Aufregung zu einer tieferen Wertschätzung des Gemeinschaftsgefühls entwickelt. Ich stütze mich in diesen 30 Tagen auf meine Familie, um Dinge zu lernen und meinen Glauben und die radikale Hoffnung zu stärken, die du vorhin erwähnt hast.  

Das Essen spielt bei den Ramadan-Feiern eine wichtige Rolle.

Kannst du ein Lieblingsrezept oder -essen nennen, auf das du dich während des Ramadan besonders freust? 

Rula: Klar! Ich habe das Glück, von der Familie meiner Mutter umgeben zu sein, einer Familie mit starken Matriarchinnen, die auch hervorragende Köchinnen sind. Meine Mutter und meine Tanten zaubern die leckersten Gerichte.  

Als mein Vater noch lebte, kochte er auch immer leckere Mahlzeiten für uns. Mein Vater war Diabetiker und konnte nicht fasten, also bestand eine der Arten, wie er den Ramadan begleitete darin, uns mit leckerem Essen zum Iftar zu überhäufen. Er kochte das zarteste Hühnerparmigiana-Gericht, das man sich vorstellen kann (er kochte leidenschaftlich gern und saugte Rezepte und Kochtipps von befreundeten Profiköchen auf, während er auf Kreuzfahrtschiffen arbeitete). Leider muss ich sagen, dass ich ihn nie gebeten habe, mir das Rezept aufzuschreiben, aber eines meiner Ziele ist es, seine geliebten Gerichte nachzukochen. 

Eines meiner Lieblingsgerichte im Ramadan ist Musakhan, ein traditionelles palästinensisches Gericht. Mit jedem Bissen fühle ich mich sofort in meine Kindheit zurückversetzt. Das Rezept haben wir von meiner Großmutter mütterlicherseits. Hier ist das Rezept!

Ich glaube fest daran, dass Kochen die sechste Liebessprache ist. Ich liebe es, während des Ramadan zu kochen und meiner Mutter unter die Arme zu greifen. Ich backe auch gerne, denn wer braucht nach einem Fastentag keinen Nachtisch? Bei uns ist Nutella wie bei vielen anderen während des Ramadan ein fester Bestandteil des Haushalts. Ich empfehle diese Nutella-Dessertrezepte. Mein persönlicher Favorit ist Qatayef mit Nutella

Was sind deine liebsten Ramadan-Traditionen? 

Heba: Eine meiner liebsten Ramadan-Traditionen ist die Freiwilligenarbeit in einer Kinderstation im Krankenhaus. Mein Freund leitet ein Programm namens Khairgiver, das muslimischen Familien, deren Kinder im Krankenhaus sind, Suhoor- und Iftar-Mahlzeiten liefert. Oft sind diese muslimischen Familien rund um die Uhr im Krankenhaus und haben keine Zeit, gesunde, warme Mahlzeiten zum Fastenbrechen zu besorgen.  

Jeden Ramadan bringen wir Familien, die ihre Kinder im Krankenhaus besuchen, Essen vorbei und haben die Möglichkeit, mit ihnen zu sprechen.  Ich liebe diese Tradition so sehr, weil sie alles beinhaltet, was der Ramadan für mich verkörpern soll: Verbindung, Geben und die dahinterstehende Absicht. Es erinnert mich auch daran, dass selbst in schwierigen Momenten, die kleinen Dinge einen Unterschied machen können. Die Zeit, die ich investiere, um meiner Gemeinde zu helfen – sei es durch das Vorbeibringen von Essen oder ein einfaches Gespräch führen - schenkt mir einen Funken Hoffnung.

Auch wenn das Fasten eine wichtige Rolle spielt, geht es im Ramadan um viel mehr als nur das Fasten.

Was bedeutet der Ramadan für dich ohne das Fasten?  

Rula: Ehrlich gesagt, ist meine Beziehung zum Ramadan und meine allgemeine Verbindung zu meinem Glauben und meiner Spiritualität eine, die sich entwickelt.  

Seit ich 8 Jahre alt bin, habe ich jedes Jahr gefastet und aktiv am Ramadan teilgenommen - im wahrsten Sinne des Wortes. In den letzten Jahren habe ich mich mit dem konsequenten Fasten schwergetan. Ich habe das Gefühl, dass ich mich auf einer Art Transformationsreise befinde. Ich liebe und schätze meinen Glauben nach wie vor und sehe die aktuelle Phase, in der ich mich befinde, als eine neue Selbstfindungsphase. Diese Einstellung hat mich dazu gebracht auch außerhalb des Fastens tiefer mit dem Ramadan zu verbinden.  

Ich würde also sagen, dass der Ramadan für mich heutzutage - abgesehen vom Fasten - eine Zeit der Reinigung meiner Seele ist. Ich bemühe mich bewusst darum, von Herzen zu beten, mehr zu geben, mich mit meinen Lieben zu verbinden, zu meditieren und an eine höhere Macht und das reichlich Gute im Universum zu glauben. 

Was ist etwas, das die meisten Menschen nicht über den Ramadan wissen?

Heba: Die meisten Menschen betrachten den Ramadan als einen sehr strengen Monat.  Das ist verständlich, denn viele der bekannten Praktiken drehen sich um Enthaltsamkeit. Man verzichtet auf Essen, auf Wut und auf alles, was der Seele schaden könnte. Aber für mich hat Ramadan auch viel mit Dankbarkeit zu tun. Es ist schwer, nicht dankbar zu sein, wenn man nach 15 Stunden Fasten das erste Mal einen Schluck Wasser trinkt. Es ist auch schwer, nicht dankbar für die Gemeinschaft zu sein, wenn ein*e Fremde*r in der Moschee sich die Mühe macht, dich zum Fastenbrechen einzuladen. 

Natürlich ist es eine Zeit, die auf Disziplin und Enthaltsamkeit beruht. Aber es ist auch ein Monat, in dem das Wunder und die Dankbarkeit dafür im Mittelpunkt stehen, was unser Geist und unser Körper trotz der Einschränkungen durch Nahrung und Schlaf leisten können.  

Gibt es eine besondere Ramadan-Erinnerung, die dir am Herzen liegt? 

Heba: Als ich das erste Mal richtig gefastet habe, war ich acht Jahre alt. Meine Mutter hat für mich ein Iftar-Fest organisiert, bei dem meine Familie Geschenke gebracht und wir diesen Meilenstein gefeiert haben. In Zeiten, in denen es oft so scheint, als würde die Welt versuchen, die Freude am Muslimsein (und so vielen anderen Identitäten) zu nehmen, denke ich oft an diesen besonderen Tag zurück. Diese Erinnerung erfüllt mich mit der Freude, die unser Glaube in uns erweckt. Ramadan Kareem!